Hier haben wir eine 4-2-2-Dampflokomotive, wie sie britischer nicht sein könnte: Außenrahmen, Innentriebwerk, niedriger Umlauf, spartanischer Führerstand, glattes Äußeres, farbige Lackierung, mit Zierlinien versehen, und – nur eine Antriebsachse mit riesengroßen Rädern, ein typischer Single Wheeler. Genauer gesagt: Ein "inside cylinder leading bogie single wheeler". Lokomotiven dieses Erscheinungsbildes hat es auf dem Kontinent kaum gegeben, in England dagegen waren dagegen derartige Lokomotiven sogar bei mehreren Bahngesellschaften bis in das frühe 20. Jahrhundert in Dienst.
Warum war das so? Zunächst muss man bedenken, dass England als Pionierland der Eisenbahn schon recht früh eine leistungsfähige Infrastruktur erhalten hat und dass es auch früh Bestrebungen nach schnellen Eisenbahnverbindungen gab. Dazu wurden schnelle und hinreichend leistungsstarke, dabei aber auch wirtschaftliche Lokomotiven gebraucht. Mit den technischen Möglichkeiten im 19. Jahrhundert ließen sich schnelle Lokomotiven nur mit relativ großen Antriebsrädern realisieren; nur dadurch waren die Kolbengeschwindigkeiten für die damaligen Schmierstoffe niedrig genug zu halten, um schnellen Verschleiß oder Schäden zu vermeiden. Dieser technische Ansatz gipfelte in Entwürfen, die bis über 8 Fuß große Antriebsräder hatten. Solch große Räder ließen sich aber bei den damaligen Größen und Längen der Lokomotiven praktisch nur an einer Achse anbringen. Abgesehen davon war man aber auch der Ansicht, dass für leichte Expresszüge eine Antriebsachse ausreichend sei, zumal mittlerweile der Dampfsandstreuer erfunden worden war, der beim Anfahren Sand in der Spalt zwischen Radreifen und Schiene blies und damit den Grip erhöhte. Bei einer Achse erwartete man einen freieren und ruhigeren Lauf, da die Reibungsverluste und Unwuchten der Kuppelstangen entfielen. Und das war auch nötig, denn diese hübschen Lokomotiven waren schnell - Geschwindigkeiten bis zu 144 km/h sind von ihnen verbürgt. Allerdings waren die dabei angehängten Zuglasten vergleichsweise niedrig, 200 bis 250 Tonnen waren es in der Regel. Die Midland Railway verfolgte seinerzeit ein Konzept mit leichten und schnellen, häufig verkehrenden Expresszügen, die auch äußerlich bemerkenswert waren aufgrund ihres sehr eleganten und gepflegten Erscheinungsbildes – ein Aushängeschild für die Bahngesellschaft. Man sagt sogar, dass die Werkstattaufseher mit weißen Handschuhen auch hinter den Radreifen nachprüften, ob die Lokomotiven ausreichend poliert waren, um auf die Strecke gehen zu können.
Im Jahr 1887 erschien die erste dieser eleganten Expressmaschinen nach dem Entwurf von Samuel Waite Johnson (1831 – 1912). Das erste Los von 1887 – 1888 umfasste 8 Loks. Die Loks hatten einen doppelten Rahmen und die Antriebsachse war darin vierfach gelagert und zunächst mit untenhängenden Blattfedern gefedert. Bei späteren Losen wurden die Blattfedern durch Schraubenfedern ersetzt. Der Kessel war aus Stahl, eine Innovation für britische Expressmaschinen.
Die Maschinen bewährten sich und so wurden weitere Lose gebaut, mit kleineren Modifikationen, z.B. vergrößerte Zylinderdurchmesser, größere Durchmesser der Antriebsräder und Kolbenschieber anstelle der althergebrachten Flachschieber. So wuchs der Bestand schließlich auf 95 Lokomotiven an – die größte Anzahl eines Typs von Single Wheelern bei einer Bahngesellschaft überhaupt (die Great Western Railway Railway kam mit ihrer Dean Single auf 80 Stück), und das zu einer Zeit, in der bei anderen Bahnen bereits gekuppelte Maschinen Standard im Expressdienst geworden waren. Das letzte Los, gebaut zwischen 1899 und 1900, umfasste 10 Maschinen. Sie waren nochmals gegenüber ihren Vorgängern etwas vergrößert worden. Die Antriebsräder hatten einen Durchmesser von 7 Fuß und 9½ Zoll und das Gewicht war auf 50 Tonnen angewachsen. Einige von ihnen hatten Drehgestelltender bekommen und eine sogar einen Namen: "Princess of Wales". Diese Lok gewann 1900 auf der Weltausstellung in Paris sogar den Grand Prix!
Es sollten die letzten bleiben, da die Zuggewichte weiter anwuchsen und die Zugkräfte wegen der Grenzen bei den zulässigen Achslasten nicht weiter gesteigert werden konnten. Und trotz des Dampfsandstreuers kam es beim Anfahren ab und zu doch zum Durchrutschen der Antriebsräder, vermutlich auch ein Grund, weshalb die Maschinen ihren Beinamen "Spinner" bekamen. Immerhin leisteten sie noch eine Zeitlang gute Dienste als Vorspannlokomotiven, wenn 4-4-0 Loks bei schwereren Zügen Unterstützung brauchten.
Doch ab 1919 begannen schließlich die ersten Ausmusterungen und bis 1928 war auch die letzte "Spinner" aus dem Dienst ausgeschieden.
Glücklicherweise wurden nicht alle verschrottet (wie bei vielen anderen Typen), sondern eine wurde der Nachwelt erhalten, die Nummer 673 (ursprünglich Nummer 118). Sie steht heute im National Railway Museum in York und lässt den prächtigen Eindruck erahnen, den sie mit ihren Zügen zu ihren Glanzzeiten boten.
Modelle
Obwohl es sich bei der MR Johnson Single um eine recht bekannte Lokomotive aus dem 19. Jahrhundert handelt, ist sie bislang von den großen Modelleisenbahnherstellern nicht mit einem Modell in Nenngröße 00 oder N gewürdigt worden. Vor einiger Zeit gab es lediglich einen Weißmetall-Bausatz von der Firma Keyser, aus dem auch das auf den Fotos dargestellte Modell entstanden ist (allerdings mit einer Reihe von Modifikationen am Chassis, um die Laufeigenschaften und die Kontaktgabe zu verbessern).
Von DelPrado gibt es ein rollfähiges Standmodell in Nenngröße N. Es wäre längst an der Zeit, dass die Modellbahnindustrie ein Fertigmodell auf den Markt bringt, zusammen mit passenden MR Zuggarnituren.
Ähnliche Loks mit derselben Achsanordnung, Bauart GWR Dean Single, wurden mal in 00 von Tri-ang, später Hornby produziert.
Bilder
Lokomotive No. 115 Das Bild stammt aus dem Bildarchiv der ETH Zürich, eine höhere Auflösung finden Sie hier. |
Lokomotive No. 118 (erhalten als LMS 673) Das Bild stammt aus dem Bildarchiv der ETH Zürich, eine höhere Auflösung finden Sie hier. |
00-Modell einer Johnson Single | Die einzige überlebende Johnson Single im NRM |
Quellen
"Single Wheeler Locomotives" von Charles Fryer, Oxford Publishing Co. , englische Originalausgabe von 1993, ISBN 0-86093-506-X
"Das Handbuch der Lokomotiven" von Brian Hollingsworth und Arthur Cook, deutschsprachige Ausgabe 1987, Birkhäuser Verlag Basel, ISBN 3-88199-688-5
Weblinks
http://en.wikipedia.org/wiki/Midland_Railway_115_Class
http://www.elegantsteam.com/mr_princess_of_wales.html
http://en.wikipedia.org/wiki/File:Midland_4-2-2_No._673_Rainhill_1980.jpg
http://www.flickr.com/photos/saltleyman/3865541380/lightbox/
http://www.midlandrailway.org.uk/gallery/locomotives